„Du Opi?“
„Ja, Marianna?“
„Ich muss dir etwas sagen. Etwas ganz wichtiges!“
„Was ist denn so wichtig?“
Marianna beugte sich vor und flüsterte ihrem Großvater ins Ohr. „Ich habe ein Wesen gesehen!“
Der Großvater nickte. „Du hast ein Wesen gesehen? Bist du sicher?“
„Ja, ich bin ganz sicher!“, erzählte Marianna aufgeregt. „Ich habe so etwas noch nie gesehen! Es sah aus wie ein Mensch, nur war es ganz klein.“ Ungefähr so. Sie hielt Daumen und Zeigefinger auseinander.
„Hmmm, Hmmm“, brummelte Opi in seinen dicken weißen Bart, den Marianna so gerne mochte und in den sie manchmal kleine Zöpfe flechten durfte.
„Das ist gleichzeitig interessant und ein bisschen seltsam“, sagte Großvater.
„Wieso denn das?“ Marianna wartete gespannt auf seine Erklärung. Sie war sich sicher, dass Opi alles auf dieser Welt wusste.
„Weil ein Wesen unsichtbar ist“, sagte Opi. „Ein Wesen ist eine Möglichkeit. Ein Holzhaus z.b. hat vielleicht ein gemütliches Wesen. Du hast z.b. ein neugieriges Wesen.“
Opi zwinkerte.
„Dein Wesen wird sich noch ganz oft ändern, wenn du das willst, aber man kann es nicht sehen. Man spürt es, oder man ahnt es.“
„Spürst du dein Wesen auch, Opi?“
„Ja natürlich. Z.b. wenn Omi ihre Hände in die Hüften stemmt und mich böse anblickt, aber dann dabei ihr Busen so lustig wackelt. Dann habe ich sie so lieb, dass ich mein Wesen ganz direkt spüre.“
Marianna kichert.
„Aber was habe ich denn dann gesehen?“
„Das weiß ich nicht“, erwiderte Opi.
„Am besten du fragst es nächstes Mal. Ich glaube nicht, dass es gerne Wesen genannt wird. Es hat bestimmt ein Wesen, aber es ist keines.“
Marianna spürte ihr Wesen auch gerade ganz doll. Darum pflaumte sie einen Kuss auf seinen kratzigen Bart und stürmte lachend davon. Auf der Suche nach dem kleinen Mann.
Sie würde ihn fragen, welches Wesen er besaß.
Text: Petra Höberl
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